Frohe Weihnachten, Arschloch!
Keine Weihnachtsgeschichte
Mein damaliger Nachbar aus der Nummer siebzehn war ein ziemliches Arschloch.
Ein Pedant, ein Besserwisser und Spießer, der nur deshalb keine Zwerge im Garten hatte, weil man dann hätte glauben können, er teile ein Hobby mit mir. (Meine waren allerdings Skandalzwerge: Exhibitionisten, vom Spaten Erschlagene, Mittelfingerhebende, Kopulierende – Sie wissen schon!)
Es war der sechste August, als ich vom Einkaufen kam, den Rucksack gut gefüllt und eine Flasche eiskalten Bieres in der Hand. Eigentlich hatte ich eine Abneigung gegen Bier auf der Straße, aber der indignierte Blick von Muttchen Tadenhöft, Verwaltungsfachangestelltenwitwe aus der Nummer drei, gleich am Anfang der Straße, war unbezahlbar. Und was mein zwergverzichtender Nachbar darüber dachte, muss ich Ihnen wohl nicht erst sagen ...
Auf Höhe seiner Grundstücksgrenze fischte ich in meiner Tasche nach dem Tabak. Ich kann einhändig drehen, worauf ich nicht unerheblich stolz bin, und das Rauchen von Selbstgedrehten gilt in der Straße als übelste Form der ohnehin verächtlichen Nikotinsucht. Wie immer wollte ich an mein Gartentor gelehnt rauchen, dabei den Rest des Bieres trinken, anschließend die Kippe auf den Bürgersteig schnippen und die leere Bierflasche auf dem Torpfosten „vergessen“. – Eine blöde Angewohnheit, zugegeben, aber können Sie sich vorstellen, was so eine harmlose, kleine Kippe mit meines Nachbarn Blutdruck anstellte?
An diesem Augustnachmittag aber blieb die Zigarette ungedreht, stattdessen verschluckte ich mich an meinem Bier. Als ich fertig war mit Husten, starrte ich in Nachbars Garten. Der mittelübergewichtige Mann balancierte auf einer Leiter und drapierte etwas um seine Haustüre herum, was verdächtig nach einer Girlande aus Tannengrün aussah! Mit roten Schleifen und ungefähr siebentausend LED-Lämpchen! Ein schneller Rundblick über das mit militärischer Präzision unerbittlich „in Form“ gehaltene Grün auf Nachbars Grundstück überzeugte mich endgültig: Der Mann hatte sein allerletztes bisschen Restverstand nun auch noch verloren! Er hatte seine wetterfeste Plastikkrippe aufgebaut, halblebensgroß und die Figuren von innen beleuchtet, Rudi-das-abscheuliche-Rentier lehnte an der Hausecke und wartete darauf, aufs Dach gehoben zu werden und von dort mit rot leuchtender Nase meines Nachbarn Wahnsinn in die Welt hinauszublinken, etwa vierzig Meter bunt flackernden Leuchtschlauchs waren offenbar getestet und für würdig befunden worden, Dachrinnen und Fenstereinfassungen des schmucken Eigenheims zu verunzieren, und seit dem letzten Advent war noch eine stattliche Anzahl von Plastikeisblumen, dito –nikoläusen, scheuen –rehlein und possierlichen –hasen hinzugekommen! Alles in die wenigen Quadratmeter des Vorgartens hineingehämmert, -gerammt, -gezwungen!
Statt an meine eigene lehnte ich mich an die nachbarlichen Toreinfassung. (Er hatte sie vor vier Monaten neu verklinkern lassen, mit so abscheulichen Blendern, dass nun nicht einmal mehr die Hunde an das Ding pinkelten.)
„Nachbar! – Ich sag’s nicht gern, aber Ihr Kalender geht erheblich vor, oder in Ihrem Fall vermutlich eher nach!“, ließ ich mich vernehmen, nachdem ich die Sprache wiedergefunden hatte.
Bedächtig kletterte der Mann von seiner Leiter herunter (Immer tat er alles mit Bedacht und mit System!) und kam zu mir herüber. In gehörigem Sicherheitsabstand von gut einem Meter blieb er vor mir stehen, stemmte seine graukariertbehemdeten Arme in die Seite und antwortete, nicht ohne einen vorwurfsvollen Blick auf meine Bierflasche: „Nicht, dass es mich im Mindesten bekümmern müsste, aber was genau meinen Sie damit?“
„Es ist August!“, sagte ich mit sorgfältiger Betonung, froh, dass der Gartenzaun zwischen mir und dem Irren war. Er sah zwar genauso harmlos-blöd-pedantisch aus wie immer, aber dem Fritz Haarmann hatte man’s schließlich auch nicht angesehen ...
„Ach so, Sie meinen meine kleinen Korrekturmaßnahmen!“, erwiderte er, und hätte ich ihn nicht besser gekannt, schwören hätt‘ ich mögen, dass sich dabei ein klitzekleines Lächeln in Richtung seiner speckig-glänzend rasierten Wangen schob.
Meine eisernen Vorsätze in Bezug auf Diskussionen mit Klugscheißern vergessend, hakte ich nach: „Korrekturmaßnahmen? – Sie verlegen Weihnachten in den Hochsommer und nennen das eine kleine Korrektur?“
„Von Ihnen kann man selbstverständlich keine Kenntnis der Evangelien verlangen!“, hob mein Nachbar an. Seit ich einmal eine Mao-Mütze mit rotem Stern getragen hatte, galt ich in der Straße als rabenschwarzer Atheist ... „Aber vielleicht wissen sogar Sie, dass anlässlich der Geburt unseres Herrn Hirten auf den Feldern waren, ’die hüteten des Nachts ihre Schafe‘. Lukas 2, Vers 8, für unsere Heidenkinder!“
„Und?“ Mehr fiel mir dazu nicht ein.
„Und glauben Sie allen Ernstes, die Hirten wären mitten im Winter mit den Schafen draußen gewesen? – So blöd sind nicht mal die da unten! Nein, da hat es bei der Festlegung des Weihnachtstermins einen Fehler gegeben, und den korrigiere ich jetzt!“
In Gedanken machte ich mir eine Notiz, die der langen Liste der nachbarlichen Fehler auch noch Rassismus, wenn nicht gar Antisemitismus hinzufügte. Schnell überschlug ich meine Antwortmöglichkeiten. Zufällig hatte ich einmal gelesen (Mein Hirn ist eine lebende Bibliothek unnützen Wissens ...), dass in Israel im Dezember mit durchaus mildem Klima zu rechnen ist. Langjährige Erfahrung aber hatte mich gelehrt, dass diese Art von Argumenten bei Menschen wie meinem Nachbarn nicht verfingen: Betimmt hatte er so lange gesucht, bis er herausgefunden hatte, dass die Kinder 1827 auf dem Ölberg Schlitten fahren konnten und dass Golda Meir im Dezember 1968 auf einer zugefrorenen Pfütze ausgerutscht war. Auch für das Datum, den 6. August, als Termin für das neue Christfest hätte er bestimmt einen ganzen Sack voll glänzender Gründe: Es war der Tag der Heiligen Bertha von Biburg und von Stapinus dem Bekenner und einem Dutzend anderer, und bestimmt hätte er mir haarklein nachgewiesen, warum dieser Tag genau der richtige wäre. – Auf solcherlei Blähungen hatte ich keine Lust!
„Nachbar, bei allem Respekt: Sie haben nicht mehr alle Nadeln an der Tanne!“
„Doch, habe ich!“, widersprach er, für seine Verhältnisse regelrecht leidenschaftlich. „Und es sind sogar Nordmann-Nadeln! Innen bin ich nämlich schon fertig. Wollen Sie mal sehen?“
Die Vorstellung, im nachbarlichen Wohnzimmer einen komplett geschmückten Weihnachtsbaum zu bewundern und – Gott bewahre! – womöglich noch mit Glühwein bei 36° im Schatten bewirtet zu werden, trieb mir verschiedene Sorten Schweißes auf die Stirn.
„Sie können sich ja zum Narren machen, so oft und solange Sie wollen, aber halten Sie mich gefälligst daraus!“, knurrte ich. Wieder einmal hatte er es geschafft, mir die Laune zu verderben! Durch bloße Existenz!
Diesmal lächelte er tatsächlich, melancholisch.
„Na, ich habe auch nicht wirklich gedacht, dass ausgerechnet Sie das verstehen würden, Nachbar. Trotzdem wünsche ich Ihnen frohe Weihnachten!“
Mir war zwischenzeitlich ein Schweißtropfen ins Auge gerollt, was mich nicht eben milder stimmte.
„Frohe Weihnachten, Arschloch!“, grummelte ich und stapfte durch die unbarmherzige Sonne in Richtung meiner kühlen Küche.
Mein Nachbar starb am Ewigkeitssonntag desselben Jahres, eine Woche vor dem Ersten Advent. „Krebs!“, hatte Muttchen Tadenhöft ehrfürchtig geraunt, als sie mir die Nachricht mitteilte. „Die Diagnose hat er am 5. August bekommen, und eine Woche später war er ja schon im Krankenhaus.“