„Mensch, Nobbe, du hast immer noch Beine wie Marika Röcks uneheliche Tochter! – Jetzt hör‘ auf, dich im Spiegel zu begaffen und reich mir den Akkuschrauber hoch, sonst werden wir nie fertig!“
Rudi stand mit allen Zeichen wachsender Ungeduld auf der Leiter und wartete. Ich reichte ihm das Gewünschte und dachte an mein Spiegelbild. Es war ein wunderbarer Maimorgen, deshalb arbeiteten wir beide in Unterhemden und abgeschnittenen Jeans. Rudi hätte sich eigentlich nicht wundern dürfen, dass mein Blick im Spiegel hängen blieb, war es doch eines der ersten Male, dass ich mich traute, sozusagen öffentlich mein rechtes Bein zu zeigen. Die Narbe, die eine große Brandwunde hinterlassen hatte, war deutlich sichtbar, und ich fand sie abscheulich. Mit der eigentlich deutlich entstellenderen auf meiner Wange hatte ich mich viel besser abgefunden, indem ich mich der allgemeinen Auffassung anschloss, sie gäbe mir etwas Verwegen-Männliches. Ich unterstützte diesen Eindruck durch einen Dreitagebart, den ich seit den Ereignissen Anfang Februar trug.
Rudi war genervt: „Kannst du mir mal sagen, warum da rumträumst? – Morgen kommt dein Liebster zurück, und du wolltest das Loft bis dahin fertig haben!“
Loft war ein etwas großes Wort für die ehemalige Kutscherwohnung über einer Remise, aber nachdem wir alle Wände herausgerissen und die niedrigen Decken beseitigt hatten, war doch ein insgesamt recht großzügiges Apartment entstanden. Es standen noch nicht viele Möbel herum, aber Kücheninsel und Bad waren immerhin benutzbar, zwei Lehnstühle aufgestellt, und eine große Matratze markierte die Ecke, in der der Schlafbereich entstehen würde.
„Sorry!“ murmelte ich und reichte ihm eine Gardinenstange an.
„So, fertig!“, verkündete er. „Jetzt räumen wir schnell auf. Du musst in deinen Laden, und ich, äh, ich habe auch noch was vor. Morgen können wir den Rest machen.“
„Hab‘ ich mich eigentlich schon bei dir bedankt?“, fragte ich schuldbewusst meinen Freund.
„Ungefähr sechshundert Mal, und langsam könntest du begriffen haben, dass ich das gerne mache. – Wenn Kevin am Samstag zurückkommt, könnt ihr euer Wiedersehen in eurer neuen Wohnung feiern, und danach kümmern wir uns um den Rest.“
Nur ich nannte meinen Freund Paul, alle anderen kannten ihn unter seinem Künstlernamen Kevin Colunga, und was den „Rest“ anging, von dem Rudi gesprochen hatte, so wollte ich lieber nicht darüber nachdenken.
Aber das hatte ja auch noch Zeit. Wir räumten zügig das Werkzeug zusammen und freuten uns, dass die Dusche endlich funktionierte. Dann fuhren wir unserer Wege, Rudi in einem Ford Granada, in dem ein blödsinnig hochgetunter Motor wohnte, und ich in meinem alten Clio, der mir als Büdchenbesitzer in Hagen-Vorhalle gut zu Gesicht stand. In den Garagen unter der Remise standen noch ein roter Alfa Romeo Spider, den Rudi in zahllosen Stunden für mich restauriert hatte, und ein Bentley Cabrio Baujahr 1986, das ich quasi geerbt hatte. Aber welche Folgen es zeitigen konnte, wenn ich eines dieser Gefährte ans Büdchen stellte, hatte ich zu Anfang des Jahres erlebt, als der Bentley einen mittleren Volksauflauf auslöste ...
Im Büdchen ging alles seinen gewohnten Gang. Ich löste meinen Angestellten Diego ab, ein Bild von einem Brasilianer (und mittlerweile – Gelobt sei Gott! – auch endlich volljährig ...). Der war froh, nach Hause zu kommen. Wahrscheinlich hatte er die gesamte Nacht gesumpft und war direkt aus der Disko zur Frühschicht in den Laden gekommen.
„Dann schlaf gut, Liebes!“ rief ich ihm zum Abschied nach, „Und vergiss dein Training nicht! Ich meine, du wirst langsam etwas voll um die Hüften ...“
Er zeigte mir den Stinkefinger und verschwand. Ich setzte meinen Dackel Carl Maria von Weber auf seinen Lieblingsplatz neben dem Verkaufsfenster und brühte mir einen Espresso. Mit „Brühen“ allerdings war das Spektakel nur sehr unzureichend beschrieben, das meine Faema E61 veranstaltete, ein Meisterwerk italienischer Ingenieurskunst und Prunkstück des Büdchens. Der Espresso hatte schon etliche Stammkunden an mein kleines Unternehmen gebunden, insbesondere seit ich ihn auch als Café Coretto mit einem Schuss des tadellosen Grappas anbot, den mein Stammwirt Massimo zuverlässig und in beliebigen Quantitäten ins Land schmuggelte. Wie aufs Stichwort erschien Karen, eine hübsche junge Amerikanerin, die seit etwa einer Woche täglich kam, Kaugummis kaufte und einen Espresso trank. Sie erinnerte mich an jemanden, aber ich war noch nicht drauf gekommen, an wen.
„Karen, mein Double Eagle!“ begrüßte ich sie, und Carl Maria gab ein artiges Begrüßungsbellen von sich.
Der Double Eagle ist eine sehr wertvolle amerikanische Goldmünze, aber auch ein zuverlässiges Modell der Firma Colt, da konnte sie sich etwas aussuchen. Tat sie auch.
„Guten Morgen, ihr beiden! Vor ein paar Jahren wurde ein St-Gaudens Double Eagle auf knapp acht Millionen Dollar geschätzt, da war sogar der Secret Service hinterher. – Du übertreibst es etwas, Nobbe!“, sagte sie in tadellosem Deutsch mit einem ganz kleinen, niedlichen Akzent.
„Aber nicht im Geringsten, mein Goldstück! Den Espresso heute mal mit Schuss?“, fragte ich wie jeden Morgen, um sie wie jeden Morgen entsetzt ablehnen zu sehen. Die westfälischen Trinkgewohnheiten, speziell die chez moi waren ihr noch reichlich fremd. Ich brachte ihr den Kaffee und als Gruß aus der Heimat ein Päckchen Wrigley’s und blieb ein wenig an ihrem Stehtischchen, um über dies und das zu plaudern. Viel Zeit blieb mir dafür allerdings nicht, denn Die Drei von der Sparkasse erschienen zu ihrem Mittagskaffee: Petra und Ulla, die beiden Seelen des Geldhauses nebenan, und Johann Nepomuk Gerlachsberger, genannt Johnny, ein ziemlich niedlicher Jungbanker und kommissarischer Geschäftsstellenleiter. Seit Jahresanfang verband uns beide ein Geheimnis, das ihn zunächst sehr befangen in meiner Gegenwart gemacht hatte. Mittlerweile hatte sich das allerdings wieder gelegt, und wir flirteten wie eh und je.
„Ah, die drei leuchtendsten Sterne am Firmament der westfälischen Hochfinanz!“ begrüßte ich die die Neuankömmlinge und ließ die Faema zischen.
Die drei strahlten mich an, Ulla holte ihr von daheim mitgebrachtes Butterbrot aus der Tasche, Petra die Tüte mit zwei Apfeltaschen, die sie bei Bäcker Vietor (100 Meter die Straße runter) erstanden hatte, Johnny nichts. Der Junge aß in letzter Zeit wenig, fiel mir auf. Außerdem hatte er diesen speziellen Glanz in den Augen, und mindestens das linke Nasenloch war etwas gerötet. Wenn sich irgendwer mit synthetischen Hilfsmitteln zur Bewusstseinsveränderung auskannte, dann ich. Vielleicht sollte ich bei Gelegenheit ein Wort mit dem Banker wechseln, wenn seine Kolleginnen nicht dabei wären ...
Karen ließ fünf Euro auf dem Bistrotisch liegen und verabschiedete sich.
„Das ist zu viel, Liebes!“, rief ich ihr hinterher.
Sie drehte sich in der Tür um und lächelte: „Just a little tip, dear!“
Gegen Trinkgeld war natürlich niemals etwas einzuwenden.
„Dann danke ich auch im Namen meiner zahlreichen hungernden Kinder!“, rief ich ihr grinsend hinterher, während ich den Schein vom Tisch wischte. Sie warf mir einen ziemlich seltsamen Blick zu und verschwand. Ich würde ihr die Redewendung wohl beim nächsten Espresso erklären müssen.
„Sag‘ mal, Nobbe“, meinte Johnny aufgekratzt, „willst du eigentlich deine Villa tatsächlich verkaufen?“
„Ja, tatsächlich“, gab ich zurück. „Nach allem, was in diesem Haus vorgefallen ist, kann ich auf keinen Fall mehr dort wohnen. – Auch wenn ich es geerbt habe und es mir ziemlich ans Herz gewachsen ist“, fügte ich seufzend hinzu.
„Und du hattest doch gesagt, dass da noch ‘ne Hypothek drauf liegt, oder?“
„Klar!“, meinte ich, „wieso?“
„Also, besser verkaufen sich Immobilien ja, wenn sie schuldenfrei sind“, erläuterte Johnny. „Bring mir doch deine Unterlagen vorbei, dann mache ich dir ein Angebot für eine Umschuldung auf dein neues Haus, und überhaupt könnte dir unser Immobilienservice beim Verkauf behilflich sein.“
„Warum nicht?“, stimmte ich zu.
Tatsächlich hatte ich mir noch nicht allzu viele Gedanken über die Angelegenheit gemacht. Einstweilen ließ ich Diego dort wohnen, nachdem sich sein Verhältnis zu einem örtlichen Gebrauchtwagenhändler zerschlagen hatte. Der hatte sich als deutlich zu wenig großzügig erwiesen ...
„Ich suche die Sachen zusammen und bringe sie dir nächste Woche rein.“
Die drei gingen zurück zur Sparkasse, Johnny entschieden zu fröhlich und tatendurstig für einen normalen Donnerstag. Ich sollte wirklich mit ihm reden, obschon es natürlich seine Sache war, ob er seinen Lohn versoff oder durch die Nase zog.
Ein paar verkaufte Kicker und Hörzu später öffnete sich die Ladentür erneut, und ich wollte Rudi gerade in gewohnter Flapsigkeit begrüßen, als mir angesichts seines Begleiters einen Augenblick lang die Luft wegblieb. Der Mann war nicht hübsch, nicht einmal attraktiv, aber er verströmte aus jeder einzelnen Pore Testosteron! Ich fing mich schnell wieder und sonderte etwas Fröhlich-Unverbindliches ab. Beim zweiten Blick auf den Mann staunte ich, dass auch die Haut eines Farbigen diesen gräulichen Schleier aufweisen kann, der von zu vielen Zigaretten und zu wenig frischer Luft herrührt. Nahm man dazu den vorsichtigen Blick und die ältlichen Klamotten des Fremden, brauchte man nicht viele Rateversuche, um zu wissen, woher er gerade kam.
„Machst du uns Kaffee – mit?“ fragte Rudi seltsam befangen.
„Klar!“ gab ich zurück. „Setzt euch an den Küchentisch, da kann man besser quatschen.“
An den kleinen Verkaufsraum schloss sich eine noch kleinere Küche an, dahinter ein Lager und ein Wohnschlafraum, ebenfalls klein, aber als Ausweichquartier immer wieder hochgeschätzt. Die beiden nahmen Platz, schüchtern fast, was bei zwei so großen Kerlen im besten Alter ziemlich komisch aussah. Ich servierte den Espresso und stellte eine Grappaflasche auf den Tisch. Dann nahm ich Platz und schaute Rudi erwartungsvoll an, bis der endlich begriff, was die Höflichkeit gebot:
„Oh, ‘tschuldigung! Also, das hier ist mein Kumpel Ray. Ray, das ist Nobbe! Also, Ray war längere Zeit nicht hier und, äh, also jetzt wohnt er erst mal bei mir.“
Ich hatte mein Lächeln nicht schnell genug unterdrückt, und natürlich hatte Ray es bemerkt.
„Gib dir keine Mühe, Rudi“ warf er ein. „Nobbe hat es schon beim Reinkommen gesehen!“ Er wandte sich mir zu: „Ja, Rudi und ich haben uns im Knast kennengelernt. Ich bin seit heute Morgen raus, und Rudi nimmt mich quasi auf.“
Ich rechnete schnell nach: Rudi war das letzte Mal vor knapp sechs Jahren drin gewesen. Wenn Ray die ganze Zeit gesessen hatte, dann hatte er sich vermutlich mehr zuschulden kommen lassen, als alten Omas die Himbeerdrops aus dem Mund zu klauen. Ich selbst kannte vom Knast nur die Besucherräume, aber von Rudi hatte ich genug gelernt, um nicht zu fragen, was Ray nach Werl gebracht hatte. Stattdessen goss ich großzügig Grappa in die Tassen und sagte:
„Na dann, Ray, herzlich willkommen draußen!“
„Danke!“
Sein Lächeln war der pure Sex, zumal er sich seiner Wirkung nicht im Allergeringsten bewusst zu sein schien.
Donnerwetter!, dachte ich. Da kenne ich den Rudi nun mein ganzes Leben lang, und dieses Hormonwunder von einem Mann hat er jahrelang in Werl sitzen und sagt kein Wort ...
Rudi war immer noch etwas verlegen.
„Also, wenn du heute Abend nichts weiter vorhast, äh, also wir wollten ein bisschen Rays Freiheit feiern.“
„Gerne, bei dir?“
„Nee“, grinste Ray, „ich freu‘ mich schon seit ‘ner halben Ewigkeit drauf, mal wieder in ‘ne richtige Kneipe zu gehen.“
„Also um neun in der Eule?“ – Der Kneipe meines Schnapslieferanten im Eckhaus an der nächsten Kreuzung.
„Gut“, meinte Rudi, „dann woll’n wir auch mal wieder, ja?“
Die beiden brachen auf, und ich murmelte lächelnd vor mich hin: „Rudi Völzgen, das letzte Mal habe ich dich so verlegen gesehen, als Schwester Scholastika dich mit einem selbstgemachten Dietrich in der Tasche auf dem Weg zum Opferstock erwischt hat!“